Text

Über die Arbeiten von Petra Warrass (Ramp und Luciferine)

von Gabor Baksay

(Text begleitend zur Ausstellung im KuK Monschau 2018)
 

Warrass’ Ästhetik ist eindeutig romantisch, aber nicht im Sinne eines händchenhaltenden Waldspaziergangs, sondern im Sinne eines mystisch-mythologisch aufgeladenen Alltags von E.T.A. Hoffmann oder David Lynch.
In der Tat findet die Fotografin das abgeschnittene Ohr, das dem jugendlichen Helden in Lynchs „Blue Velvet“ zum Tor in „eine fremden und seltsame Welt“ wird, an jeder Ecke, überall.

In ihren Serien „Luciferine“ und „Ramp“, die sie im KuK zeigt, sind es irrlichternd kolorierte Waldstücke und scheinbar banale Teile einer Skateboard-Rampe, die den Betrachter ins Innere des Unheimlichen ziehen. „Luciferine“ bezeichnet Naturstoffe, mit denen bestimmte Lebewesen die Fähigkeit zur Erzeugung von Licht haben (z.B. Glühwürmchen).
Das Wort passt gut zu Petra Warrass’ nachkolorierten, wie aus sich selbst leuchtenden Fundstücken der Natur, aber im Kontext ihrer Arbeit steht es für sehr viel mehr. Ob absichtsvoll oder unbewusst steht sie der Heideggerschen Verknüpfung von Existenz und Angst näher als dem ahnungslosen KuK-Besucher vielleicht lieb ist. 

Martin Heidegger als unbestrittene Angst-Koryphäe der neueren Philosophiegeschichte, beschreibt Angst als menschliche Grundbefindlichkeit, die sich nicht vor etwas Bestimmtem fürchtet, sondern mit dem Nichts und Nirgends seines Daseinsgrundes konfrontiert wird: „Das Wovor der Angst ist das In-der-Welt-sein selbst.“

Die beredte Stummheit von Petra Warrass’ in pathetischer Froschperspektive aufgenommener „Rampe“ nimmt dem Ding an sich die geruch- und geschmacklose Neutralität, die es noch bei Kant hatte und denunziert die Objektwelt als das Fremde, das eben kein willenloses Objekt ist, sondern ein subjektives für-sich- bzw. an-sich-Sein beansprucht.
 Quasi als Illustration für Freuds „Das Unheimliche“ verleiht dieses Ding die menschlichen Angst vor der Wiederkehr des Verdrängten und der Wiederbelebung eines überwundenen Realitätsverständnisses (der kindliche Glaube an eine beseelte Objektwelt) auf irritierende Weise Gestalt.

Ebenso hat die irrlichternde Kolorierung der Zweige und Gehölze in „Luciferine“ in ihrem toxischen Schimmer die luziferische schillernde Schönheit eines Tumors. 
Aber das ist nichts Schlimmes. Schließlich war Luzifer von Anfang an eine der zentralen Figuren der Romantik, der es immer um Überhöhung der als gefühlstot betrachteten Normalität ging. Ob das nun mit positiven oder negativen Vorzeichen stattfindet, hängt von der Tagesform ab.


© Gabor Baksay, 2018

 
 
 

Inside-Out

von Bettina Roggmann

(Katalog begleitend zur Ausstellung „Täuschung und Wahrheit“, Schloss Agathenburg, 2015)

 

Bin ich der, den ich sehe? Sehe ich so aus, wie ich mich im Innersten fühle? Wirke ich so, wie ich von anderen gesehen werden möchte? Neunzehn Jugendliche zwischen zwölf und fünfzehn Jahre alt betrachten sich im heimischen Flur- oder Badezimmerspiegel und befragen ihr Spiegelbild. Mit der 34-teiligen Fotoserie Inside Out setzt die Künstlerin Petra Warrass das Porträt im klassischen Sinne als Ausdrucksmittel menschlicher Individualität ein. Die neunzehn Jugendlichen sind als Kopfbild oder Schulterstück in Frontal- oder Dreiviertelansicht, farbig oder schwarz-weiß, immer im gleichen Format (36 x 24 cm) dargestellt. Auf den ersten Blick wirken die Porträts, die Petra Warrass von den Jugendlichen schafft, wie Selbstbildnisse. Das hat mit der absoluten Präsenz der Dargestellten und der Intimität der Situation zu tun und auch damit, dass die Fotos in keiner Weise inszeniert wirken. Hier geht es nicht um eine fotografische Geste, sondern um die Dokumentation einer sehr persönlichen Situation, der Selbstbetrachtung und –befragung mit Hilfe des eigenen Spiegelbildes in einer Lebensphase, die von großen Umbrüchen und der Suche nach der eigenen Identität gekennzeichnet ist. Petra Warrass konzentriert sich beim Fotografieren auf das Spiegelbild, auf das Abbild der Person. Ihr Interesse gilt dem sich selbst fixierenden Blick der jungen Menschen. Die Portraits werden bei vorhandenem Licht gemacht, die Gesichter bleiben in der Postproduktion weitestgehend digital unbearbeitet.

Petra Warrass tritt mit ihrer Sicht auf die Porträtierten zurück – doch ist das vertrauensvolle Verhältnis der Künstlerin zu den Dargestellten die notwendige Voraussetzung der Porträtreihe, steht sie doch direkt hinter ihnen und dokumentiert quasi über deren Schulter eine Zwiesprache: Die Frage, ob das Spiegelbild die Wahrheit über die Person wiedergibt. „Trotz aller Annäherung schafft die Künstlerin, als stellvertretender Betrachter, lediglich eine Imitation von Wahrheit. Sie offenbart uns eine mehrfach gespiegelte Wahrheit und die Erkenntnis, dass Wahrheit wohl etwas mit Vertrautheit zu tun hat.“ (Denise Essig, Rede zur Einführung in die Ausstellung Täuschung und Wahrheit, Schloss Agathenburg, 27. Juni 2015)

Das Spiegelbild des Antlitzes hat in der Kunst eine lange Tradition. Es steht für Selbsterkenntnis und dient auch als Symbol der Wahrheit, Seele und Erkenntnis. Es hat die Funktion, eine Ansicht außerhalb des Kernbildmotives einbeziehen zu können, wie bei Diego Velasques Die Venus mit dem Spiegel um 1664, wo uns die Göttin, dank des Spiegelbildes, nicht nur mit der Rückenansicht entzückt. Immer haben Künstler Spiegel verwendet, um Selbstbildnisse anzufertigen. Nur selten war er dabei nicht bloßes Werkzeug, sondern Thema der Darstellung, wie im kleinformatigen Selbstporträt im konvexen Spiegel von Parmigianino (eigentlich Francesco Mazzola) von 1523/24. Der jungendliche Maler schaut dort ähnlich ernst und versunken am Betrachter vorbei, wie die Jugendlichen in der Serie Inside Out. Auch bei Petra Warrass füllt das Spiegelbild nahezu den gesamten Bildraum aus, lediglich am Bildrand sind manchmal Haare, ein Stück der Schulter, der Rahmen oder der Kantenschliff des Spiegels dargestellt. Diese ‚Reste‘ lassen uns Betrachter zugleich zum intimen Vertrauten wie auch zum Außenstehenden werden. Sind wir doch immer dicht dran, doch gilt der Blick der Dargestellten stets dem Spiegel, nicht dem Betrachter.

Ganz anders als beim beinah zwanghaft nebenbei gemachten Selfie aus allen Lebenslagen, das auf soziale Interaktion und humoristischen Ausdruck setzt, wird hier vor dem heimischen Spiegel kein besonderer Gesichtsausdruck geprobt – weder sich selbstbewusst zugelächelt noch eine Grimasse gezogen – es findet eine stille, sehr intensive Selbstbefragung statt. Petra Warrass gelingt mit Inside Out ein eindringliches Porträt von Jugendlichen und hinterfragt zugleich die Möglichkeiten von Bild und Abbild, die Unterscheidbarkeit von Täuschung und Wahrheit.

© Bettina Roggmann, 2015

 

 

 

Wir sind die Anderen

von Martin Berke

(Katalogtext „Wir sind die Anderen“, DA Kunsthaus Kloster Gravenhorst, 2010)

„Ich bin der blaue Junge da.“
Lino (5 Jahre)
„Es handelt sich hier nicht um Vergnügungsmittel.“
Ernst Jünger (37 Jahre)

Dann fliegen die mit dem Hubschrauber, und unten: überall Zombies. Dann müssen die aber landen, weil die kein Sprit mehr haben, und er: „Ich seh mal da im Schuppen nach.“ Und dann ist er da drin, total dunkel alles, und dann kommt der Zombie, und krallt sich da so vorne an ihm fest, und dann kann er ihn nicht mehr mit dem Gewehr kaputtmachen, und dann sieht er da einen Hammer, und er dann so: Boam, Boam, Boam.

Wer erinnert sich nicht an derlei Schulhofgespräche? Oft wurde die Wiedererzählung noch gestisch begleitet, kaum reichten die kindlichen Mittel hin, das Geschaute darzubieten. Man überschlug sich vor Eifer – merkwürdigerweise auch dann, wenn der Andere den Film gleichfalls gesehen hatte.

Folglich ging es in solchen Vorträgen nicht darum, jemanden inhaltlich in Kenntnis zu setzen. Sondern darum, sich eines Besitzes zu versichern: Ich bin jetzt der Film. Und ich höchstpersönlich hämmere den Zombie platt: Boam, Boam, Boam.

So funktioniert Film: Wir nehmen Anteil, unseren Anteil. Wir hämmern mit denen dort oben auf der Leinwand, wir küssen mit ihnen, hoffen, bangen, sterben und siegen, wir identifizieren uns mit ihnen. Das heißt: Sie sind Teil unserer Identität: Wir sind die Anderen.

Freilich sind wir auch Teil ihrer Identität, denn wo kämen sie denn wohl her, die Hulks, Avatare und Sissis dieser Welt, wenn nicht aus uns? So ist es irrig zu glauben, der Film wäre Traumschaum. Stattdessen tun wir gut daran, ihn als unsere Wirklichkeit anzusehen.

Gemeinhin neigt man dazu, den Begriff der Wirklichkeit zu verengen: Wirklich ist die Beschäftigungslage, wirklich ist unser Kaffee-Vollautomat, wirklich ist das Kanalisationsnetz, unser flauschiger Flokati, der Rechtsstreit mit dem Nachbarn, der Sommerurlaub, wirklich sind Spaghetti alla carbonara, Kontoauszüge sowie viele weitere mehr oder minder angenehme Dinge, welchen eines gemein ist: Sie sind samt und sonders völlig sinnlos.

Wohl haben diese Dinge unserer verengten Wirklichkeit ihre Wirkung: Sie gewähren den Fortgang des Lebens, jedenfalls so lange, bis der Tod eintritt. Mitunter umschmeicheln uns diese Dinge gar, keine Frage. Doch bekommt unser Leben, unser Tod einen Sinn dadurch, daß wir einen besonders schönen Bausparvertrag abgeschlossen haben? Oder zu großen Leistungen beim Tischtennis imstande waren? Schicke Schuhe trugen?

Mit etwas Neid blicken wir in die Vergangenheit, welche zweifelsohne sinnvoll war, hatte sie doch zweierlei: Geschick und Geschichte. Geschick bedeutet, daß unserem Leben Sinn gegeben ist; Geschichte bedeutet, daß wir unserem Leben Sinn geben. Diese geschichtliche Sinngebung ist dual: Der Mensch macht Geschichte, dieweil er sie erzählt.

Kehren wir mit dieser Erkenntnis zurück in unsere verengte Lebenswirklichkeit, welche sinnlos, da sie nicht erzählbar ist. Wir kaufen uns einen Durchlauferhitzer mit Stufendrossel – wem wollen wir das erzählen? Auf Interesse können wir höchstens bei denen rechnen, die uns kennen, idealerweise: lieben, doch wäre es dort die Liebe, die das Interesse nährte, nicht das Erzählte. Wer kennt sie nicht, jene schwergemuten Familienfeste, auf denen Onkel Erwin lang und breit darlegt, wie er den Verkäufer um zwanzig Euro heruntergehandelt hat, weil der Karton schon etwas angestoßen war, und wer hätte sich in solcher Situation nicht eine Horde Zombies herbeigewünscht?

Unsere verengte Lebenswirklichkeit ist nicht erzählbar. Mithin ist sie sinnlos. Damit sei nichts gegen jene Lebenswirklichkeit gesagt, außer eben, daß sie sinnlos ist. Daß sie sinnlos ist heißt jedoch nicht notwendigerweise, daß sie schlecht wäre.

Nun mag man einwenden, daß jene Lebenswirklichkeit seit jeher sinnlos ist: War die Erzählbarkeit nicht stets die Ausnahme? Alexander der Große, schön und gut – aber was ist mit seinen Zeitgenossen, die ihr Leben in Hinterthrakien als Hirsebauern fristeten?

Solche Einwände verkennen die Wirklichkeit jener Zeit: Zum Einen hat selbst der allerletzte Hirsebauer, der letzte Schweinedarmentschleimer im allerletzten Troß des Alexanderzugs mehr Geschichte als all wir Heutigen. Zum Anderen hat jeder Grieche seinen Anteil am König, ist dieser als Grieche doch einer von ihnen, ihr Herrlichster wohl, und so ist seine Herrlichkeit die ihre, aus Allem Eins, aus Einem Alles.

Doch leider sind die heutigen Herrscher von anderem Schlag als jene vergangenen. Zudem verlangt der späte Individualismus, daß wir nicht im Abglanz, sondern aus uns selbst heraus leuchten. Dieser individualistische Selbstleuchter freilich funktioniert nicht mehr so recht; man fragt sich, ob er es je tat. Der Anspruch, daß ein jeder seinen eigenen Sinn stifte, seine eigene Geschichte erlebe, ist allzu frivol. Wir können das nicht.

Und dennoch trifft uns ein Abglanz des Herrlichen – im Kino, wenn unser Antlitz im Widerschein der Leinwand leuchtet. Wir identifizieren uns, nehmen Anteil, unseren Anteil. Denn jene da vorne haben etwas, was sie uns freigiebig mitteilen: Ein Leben, das sich erzählt, ein Leben voller Sinn, voller Größe im Sieg, voller Größe in der Schmach, ein Leben voller Lust und Leid, voller Schuld, Sühne und Läuterung, voller Geschick und Geschichte, ein Leben voller Superhelden, Superfrauen und phantastischen Explosionen in vielerlei Farben.

Dieses Lebens werden wir nicht nur im Kino teilhaftig, nein: Der technische Fortschritt schenkt uns den Fernsehapparat, den Computer, die Spielekonsole, das Smartphone – überall dorther dürfen wir sinn- und wundervolles Leben in uns hineinsaugen.

Was uns zur Daseinsbestimmung gerät: Mehr und mehr verlegen wir uns darauf, in jenem Anderen zu leben, wozu uns ein stetig wachsendes Arsenal an immer raffinierteren Daseinsbestimmungsgeräten verhilft, vor deren geradezu magischer Kraft wir auf die Knie sinken, und zwar zurecht.

Nehmen wir nur das geringste dieser Daseinsbestimmungsgeräte: Welcher Hingabe, welcher Entsagung bedarf es, solch ein Zauberzeug wie den iPod zusammenzubauen, wie sehr muß man sich ins große Werk verlieren – anders gesagt: Wer in einem Konstruktionsbüro, wer in einer Fabrik sitzt, kann sich unmöglich noch mit solchen Dingen wie Lebenssinn belasten.

Stellen wir uns umgekehrt Alexander den Großen in der iPod-Montagehalle vor – es ist zu vermuten, daß seine Arbeitsleitung ganz und gar unzureichend wäre, selbst wenn man ihn dort einsetzte, wo die Handgriffe denkbar simpel sind.

Doch anders als der Makedone sind wir bereit, des Sinnes vorderhand zu entsagen – um ihn im technischen Raume erstehen zu lassen. Wir reduzieren unsere Lebenswirklichkeit, degradieren uns zu Termiten, um eine Wunderwelt zu kreieren.

Das Wunder freilich liegt nicht im Erzählten: Hier sind wir seit Alexanders Tagen kaum weitergekommen. Ginge es ums Erzählte, so rechtfertigte sich kaum der technische Aufwand, den wir hier betreiben. Stattdessen geht es um eben diesen technischen Aufwand.

Die Dinge verändern sich, wenn sie im technischen Raume erstehen: Ein Dolby-Surround-3d-Filmkuß ist etwas anderes als das, was wir hienieden treiben. Nichtsdestotrotz sind wir die Anderen dort oben auf der Leinwand, in ihnen begegnen wir uns in höherer, technischer Potenz.

Diese Begegnung stellt Petra Warrass dar. Sie fragt Menschen nach ihren Lieblings-Filmszenen, komponiert diese zu einem Potpourri. Dann stellt sie die Szenen mit den Befragten photographisch nach, es entstehen Bilder von ganz merkwürdiger Kargheit: So sehen wir wohl für jene dort oben auf der Leinwand aus.

Petra Warrass präsentiert uns den Menschen in seiner Gebrochenheit: Wir sind die Anderen, dennoch und damit sind die Anderen anders. Dieser Bruch ist in der technischen Welt allgegenwärtig. Er ist unsere ebenso berauschende wie gefährliche Erfahrung. Petra Warrass setzt sie wundervoll ins Bild.

© Martin Berke, 2010

 

 

 

Selbstbetrachtungen im Breitwandformat

von Justus Jonas

(Katalogtext „Wir sind die Anderen“, DA Kunsthaus Kloster Gravenhorst, 2010)

 

Petra Warrass zählt zu jenen Künstlerinnen, deren visuelle Strategien insgesamt betrachtet zu höchst vielfältigen Ergebnissen führen. So benutzt sie sowohl die Foto- als auch die Videokamera, komponiert Einzelbilder oder gruppiert Momentaufnahmen zu mehrperspektivischen Standbildfolgen, dreht Filme oder montiert bekannte Kinoszenen zu parodistischen Videocollagen zusammen. Kaum anders die Fotografie: thematische Sprünge und Sujetwechsel (Interieurs-, Landschafts- und Stadtraumszenen, Personendarstellungen) treten dabei ebenso offensichtlich zutage wie das Alternieren von Schwarzweiß- und Farbaufnahmen, die ihrerseits in Formatgröße und Präsentationsweise stark abwechseln können. Dabei fällt auf, dass die filmische Aktion bei Warrass meist zur Ruhe, Verlangsamung, bis hin zum Stillstand gebracht ist, während die Fotografie fast ausschließlich aus Handlung und Bewegung erwächst und es stillschweigend zu einer gegenseitigen Annäherung der beiden Medien kommt.

So verschiedenartig und vielgestaltig die Bilder und Werkgruppen von Petra Warrass auch sind, bleibt ihnen doch ein berührendes Stimmungsmoment von gleichsam intimer Atmosphäre gemeinsam. Menschen in gedankenversunkener (das Gesicht meist verdeckter oder maskierter) Pose, eingetaucht in florierende Natur, bei akrobatischen Aktionen oder in traumwandlerischer Selbstvergessenheit, als seien sie völlig in ihrem – manchmal absurd erscheinenden – Tun verhaftet und der Gegenwart der Kamera gänzlich unbewusst. Gelegentlich hat es den Anschein, als sei das Objektiv den inneren, nicht sichtbaren Regungen ihrer Protagonisten auf der Spur, wie etwa bei „Sonar“, einer Serie von Aufnahmen, die eine junge Frau zeigt, welche mit gespreizter Handfläche und lauschendem Ohr ganz dicht dem Wandverlauf eines Zimmers folgt, als wolle sie dessen Schwingungen erspüren. Andernorts taumeln junge Mädchen in langen Mänteln über Flure, stolpern Treppen herunter oder ringen um ihr Gleichgewicht. Das Individuelle der Personen teilt sich – wenn überhaupt – nicht durch Aussehen und Mimik, als vielmehr durch ihre Verhaltensweisen und Gebärden mit, und diese wiederum scheinen meist durch die Allgegenwart trendsetzender Medienbilder präfiguriert zu sein.

Die Frage, welchen gesellschaftlichen Umgangsformen wir uns fügen bzw. welche individuellen Verhaltensweisen wir absichtlich oder unbewusst nachahmen, thematisiert Warrass schon in einer Reihe früherer Arbeiten, beispielsweise solchen, in denen Kinder in die Rolle von Erwachsenen schlüpfen, wie die filmreifen Revolverhelden im Video „Les joueurs“, junge Männer öffentlich in Rauf- oder Jubelposen („Out of area“) übereinander herfallen oder Personen mittleren Alters von harmlosen Plüschtieren überwältigt werden („Teds“). Manche Auftritte wirken vertraut, andere beunruhigend: irritierend deshalb, weil sich hinter ihrem Muster eine noch nicht besetzte Aussage verbirgt. Auch Kleidungsstile und häusliche Einrichtungsmoden spielen hier eine Rolle, wie bei jenen Wohnzimmerbildern von Warrass, die ausnahmsweise menschenleer sind und doch den Eindruck von Bühnen vermitteln, auf denen gleich eine glanzvoll inszenierte Vorstellung stattfindet.

„Wir sind die Anderen“ – unter dieses Motto stellt Petra Warrass ihr Gravenhorster Projekt, bei der sie die Gastgebergemeinde ihres Stipendienortes von Beginn an beteiligte. Sich als Anderen zu empfinden oder zu deklarieren, meint im Positiven das Solidarisieren mit dem Unähnlichen, negativ die Erfahrung von Selbstfremdheit oder Ich-Spaltung im Sinne der Worte Lacans: „Le je n’est pas le moi.“ Genau betrachtet ist das Projekt Resultat eines doppelten Rollentauschs, das Publikum wird zum Mitschaffenden, die Künstlerin unterwirft sich dessen Vorgaben. Warrass forderte Besucher aller Altersgenerationen dazu auf, ihre persönliche Lieblings-Kinoszene zu schildern, wobei es sich um solche handeln sollte, die den Probanden am eindrücklichsten in Erinnerung geblieben waren. Anschließend sammelte sie die Ausschnitte, filmte sie ab und montierte aus ihnen eine kapriziöse Videocollage, deren cineastischen Fragmente zugleich etwas vom Selbst der Befragten widerspiegelt. Aus der rund zehnminütigen Schnittfolge entsteht aus Bekanntem etwas Neues, eine Art Mosaik, hinter dem möglicherweise Facetten eines kollektiven Psychogramms aufscheinen. Gibt es eine intersubjektiv gültige Häufung beliebtester Spielfilmszenen? Warum spricht gerade diese oder jene besonders an? Welches künstlerische Potenzial lässt sich aus ihnen ziehen? Warrass beginnt mit einer quasi- wissenschaftlich-empirischen Vorgehensweise und konterkariert diese sogleich wieder. Die eigene und eigentliche Leistung der Künstlerin besteht in einem ersten Arbeitsschritt in der Verbindung und Neuarrangierung der bunt gewürfelten Ausschnitte – teils sind es überlappende Tonspuren oder ironisch vertauschte Dialoge, teils formale oder zufällige Übereinstimmungen, die Brücken zwischen dem Ungleichen und Ungleichzeitigen schlagen. In dichter Folge reihen sich sentimentale und Actionszenen aneinander in Besetzung meist bekannter Hollywoodgesichter aller Genres.

Am Ende lässt Warrass ihre Ideengeber am Ergebnis erneut teilhaben. Mit der Umkehrung des „Kinos im Kopf“ durch Präsentation in einem adaptierten Filmvorführraum werden die Projektbeteiligten gleichsam abermals zum Zuschauer projizierter Erinnerungen aus Versatzstücken der großen „Traumfabrik Kino“. Petra Warrass´ Videomontage spielt mit der Lust am Identifizieren der Filmszenen ebenso wie mit jenem der Collage innewohnenden Reiz kruder Brüche, die bekannte Filmmuster persiflieren und das neu Komponierte zu einem amüsanten und bis zum Abspann kurzweiligen Erlebnis machen.

Auch wenn das filmische Resultat für Warrass Anspruch auf eine für sich stehende künstlerische Arbeit erheben kann, dient sie in diesem Fall aber zugleich als Basis einer Serie von Fotoarbeiten, die sie in einem gesonderten „white cube“ der filmischen „black box“ zur Seite stellt. Auch diese relativ frei über die Wände verteilten Aufnahmen haben den Charakter von Filmstills und sind wiederum in Zusammenarbeit mit den Befragten –-diesmal als Modelle vor der Kamera – entstanden. Fast erwecken die Aufnahmen den Anschein, als stünden einige von ihnen sogar in direkter Verbindung zu den zitierten Filmsequenzen, wie die Fotos eines älteren Paares, das sich ähnlich einer Haarwaschszene von Meryl Streep und Robert Redford in „Out of Africa“ gegenseitig der Körperpflege hingibt – und doch sind die Referenzen zu vage und abstrakt, als dass es sich um tatsächlich nachgestellte Szenen handelt. Für Petra Warrass sind sie eher Anregung zu eigenständigen fotografischen Inszenzierungen, die die Personen als Darsteller quasi-filmischer Drehbücher erscheinen lassen. Ist der schweißgebadet auf dem Bettrand hockende Mann gerade aus einem Alptraum gerissen worden, um sich – die innere Fassung suchend – wie eine Gemäldefigur Edward Hoppers dem Licht zuzuwenden? Oder paraphrasiert er den im Regen sterbenden Replikanten Roy (Rutger Hauer) am Schluss des Kultfilms „Blade Runner“?

Petra Warrass´ fotografische Personeninszenierungen gipfeln in der Suggestion, wie jemand bzw. jemand anderer zu sein und bleiben darin – wie alle Schauspielerei – im Kern Maskerade. Die kleine Fotoserie eines jungen Mädchens im Batmankostüm, deren Abzüge wie Memos hinter den Rahmen eines Spiegels geklemmt sind, bringt dies auf den Punkt. Sie handelt von dem für Kinder typischen Wunsch nach übernatürlichen Kräften, setzt diesen in gespielten, unerschrockenen Bezwingerposen des Mädchens in Szene und rückt gleichzeitig den Betrachter unweigerlich in die Mitte des Spiegels. Inwiefern registriert er die eigene Person als Objekt der Wahrnehmung? Erlebt er sich zurückversetzt in das eigene „Spiegelstadium“?
Wir sind die Anderen – vielleicht tun wir aber auch nur so.

© Justus Jonas, 2010

 

 

 

Play again…

ein Text von Anna Zika

(Katalogtext „wenz’n warrass: Zank-Patience“, 2009)

 

Das Spiel beginnt, und in einem bestimmten Augenblick ist es „aus“.1

Stellen Sie sich Corinna Harfouch im roten Kleid und mit rotem Lippenstift vor. Super! Sie legt eine Patience. Zwischendurch lächelt sie sphinxisch – warum auch nicht? Das kann sie gut! So legt sie ihre Patience in der Rolle der Magda Goebbels in Oliver Hirschbiegels Film „Der Untergang“. In dieser Rolle hat sie soeben ihre sechs Kinder eigenhändig vergiftet. Gleich wird ihr Mann Joseph sie eigenhändig erschießen. Dazwischen legt sie eine Patience! Sonst haben sich die Eheleute nichts zu sagen. Außer, dass sie wohl früher schon gezankt haben.
Zank und Patience also sind das Letzte, was Magda Goebbels im „Untergang“ erlebt.
Das hat alles nichts mit der Zank-Patience von Wenz’n’Warrass zu tun, wirklich: nichts, aber ich wollte trotzdem damit anfangen.

Die Regeln habe ich auch gar nicht verstanden, weil ich Regeln meistens nicht, eigentlich nie, verstehe. Die Fotos auf den Spielkarten der Zank-Patience aber kann ich mir stundenlang ansehen. Ich seh mir immer noch ganz gerne Bilder an, obwohl das mein Beruf ist. Die Fotos sind sehr unterschiedlich – in dem, was sie zeigen, aber auch in der Art und Weise, in der sie fotografiert sind. Beispielsweise unterscheidet sich die dokumentarische Aufnahme eines Schwarzafrikaners, der, vermutlich auf einem Markt, Hammelhoden schwenkt, deutlich von der Aufnahme eines jungen Mannes, der sich in leicht grotesker Verrenkung an einer Wand zu schaffen macht: offenbar eine Inszenierung… Essstäbchen, pittoresk um einen rostigen Behälter herum angeordnet, wirken – obwohl vielleicht beiläufig dort hingeraten – wie das Ergebnis einer künstlerischen Intervention. Diesem Verdacht sind auch rote und blaue Gegenstände in einer Schneelandschaft ausgesetzt… wer weiß? Und sind die Leute auf dem schwarz-weiß-Familienfoto Verwandte von Julia oder Petra?

Julia Wenz und Petra Warrass jedenfalls haben das Bildmaterial zusammengetragen, vorübergehend gemeinsam ausgestellt und später in das Kartenspiel investiert. Mal ist die Eine Fotografin einer vorgefundenen Situation, mal ist die Andere diejenige, die die Situation erzeugt (und dann fotografiert) hat. Oder umgekehrt. Oder das Foto ist vorgefunden…

Die Urheberschaft des Einzelbildes tritt zurück hinter die Prinzipien der Sammlung, Archivierung und Kombinatorik. Deren Kriterien liegen im Ermessen der Künstlerinnen: Farbharmonien, Kompositionsanalogien oder Motivverwandtschaften können gleichermaßen der Anordnung der Einzelbilder im Ausstellungsraum und somit der Kontextbildung zugrunde liegen. Diese „neuen“ Zusammenhänge werden zunächst durch Wenz und Warrass erzeugt und lassen sich als „visueller Dialog, Fotoroman, Storyboard, Farbklang oder Dokumentation“ lesen. Soweit betätigen sich Wenz und Warrass in einer Weise, die Künstlern seit Jahrhunderten eigentümlich ist: indem sie den Weltbestand aneignen, verwalten und kombinieren schaffen und schöpfen sie neue Welten.
Diese Leistung übernehmen im Projekt Wenz’n’Warrass schließlich die BetrachterInnen.
Das fotografische Material von Julia Wenz und Petra Warrass verdichtet sich im „Endprodukt“ des Projekts, der Zank-Patience, zu zwei identischen Kartenhaufen, aus denen jeweils zwei Spielpartner abwechselnd Reihen legen. Dabei haben sie – wie zunächst die Bildgeberinnen – kombinierend und assoziierend vorzugehen. Die Regeln dafür sind, und das ist wiederum Teil des Spiels, verhandelbar. Selbst eventuelle Zuschauer des Spiels dürfen sich an den Dikussionen darüber, wer welche Karte wohin legt, beteiligen. Damit unterscheidet sich die Zank-Patience wesentlich von traditionellen Partnerspielen, als deren Hauptmerkmal etwa Johan Huizinga die Unverrückbarkeit von Regeln ausgemacht hatte: „Das Spiel fordert unbedingt Ordnung. Die geringste Abweichung von ihr verdirbt das Spiel, nimmt ihm seinen Charakter und macht es wertlos“2. Da müssen wir widersprechen!
Huizinga versuchte zwar in seiner legendären Studie Homo ludens (1938), nachzuweisen dass die Kultur selbst Spielcharakter habe3, und auch „Spielformen der Kunst“ waren ihm vertraut. Doch gerade die Horizonterweiterung im vermeintlichen Regularium der Zank-Patience dürfte ihn irritiert haben. Dabei entfaltet sich gerade im Aspekt der Kommunikation, im argumentieren Aushandeln der Bedingungen, der absurde Reiz des Spiels, dessen sture Regelbefolgung wohl kaum den Hauptgewinn darstellt. Hier nämlich wird der Spieler zum Künstler, der seine Welt nach Wille und Vorstellung schafft.

Auf das Verhältnis von Spiel und Erotik kommt Huizinga leider eher beiläufig, da möglicherweise verschämt, zu sprechen. Tatsächlich galt aber vor allem Schach nicht nur als „Spiel der Könige“, sondern auch als Liebesmetapher und Symbol des raffinierten Geschlechterkampfes.
Darüber hatte ich auch gelegentlich meinen Mann belehrt, und als ich ihm wieder einmal Lust auf eine Partie machen wollte, meinte er: „Ich finde Sex eigentlich besser“. Die Zank-Patience, allerdings, haben wir zusammen noch nicht gespielt.

© Anna Zika, 2009

 

 

 

ganz ist nie eins

von Denise Essig

(Katalogtext „ganz ist nie eins“, Maler Zang Haus, Birkenfeld 2009)

“In Wahrheit ist jede Realität eine Täuschung.”
Vitangelo Moscarda, Protagonist in Luigi Pirandellos „Einer, Keiner, Hunderttausend“, 1912-25/26

Hauchdünnes, zerbrechliches Glas, zu einer waghalsigen Pyramide übereinandergestapelt, auf einer Hand balanciert, so dass dem bewundernd staunenden Betrachter der Atem stockt. Warum stürzt nicht alles in sich zusammen? Mit ihren Arbeiten fordert Petra Warrass den Betrachter heraus. Die Frage nach dem Warum zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Arbeiten. Sie stellt diese Frage pointiert mit ihren Bildern, die genau jenen indifferenten Moment erfassen und gibt sie an den Betrachter weiter. Die Bilder im Katalog zur gleichnamigen Ausstellung ganz ist nie eins stoßen mittels kompositorischer und technischer Raffinesse in jeder bewegten oder unbewegten Szene, als Einzelbild, als Serie oder als Film diese Frage an.

Ein Film bestehend aus Lieblingsfilmszenen der Birkenfelder. Ein Birkenfelder Filmprojekt. Verraten Sie Ihre Lieblingsfilmszene! Verraten Sie Ihre Lieblingsfilmszene? Eine ganz unauffällige oder dramatische Szene, eine Szene, die zum Lachen oder zum Weinen bringt, aus alten Filmklassikern oder aktuellen Filmen, aus Hollywoodstreifen oder Nischenfilmen, eine Szene, die Sie nicht mehr loslässt. Die Birkenfelder haben es getan. Sie haben ihre Lieblingsfilmszene verraten, spontan preisgegeben, was in ihrer Erinnerung einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Szenen aus 33 Filmen sind dabei zusammengekommen, aus Filmen wie E.T. der Außerirdische, Harry und Sally, Wenn der Vater mit dem Sohne, Sissi, Easy Rider, Das Leben ist schön oder Heimat. Zwischenmenschliche Szenen, emotionale Szenen, Schlüsselszenen. Warum sind es ausgerechnet diese Szenen, die in Erinnerung bleiben? Was macht eine Lieblingsfilmszene aus, was die Erinnerung? Erinnerung als ein Lieblingsbild, eine Lieblingsszene? ganz ist nie eins. Diese Fragen wirft Petra Warrass in ihrer Arbeit Birkenfelder Szenen auf. Komplett geschüttelt, geschnitten, dramaturgisch bearbeitet ist ihr Film das Ergebnis ihrer Suche nach einer Verbindung zu den Menschen in ihrer Heimatregion, eine Suche nach deren und ihrer eigenen Identität durch das Medium des Films – als Ausgangspunkt und Endprodukt. Aber wo ist die Verbindung zwischen dem emotional gefärbten individuellen Erinnern an eine selbst erlebte, gefühlte Begebenheit und einer fiktiven, von Schauspielern stellvertretend nachempfundenen Situation? Gewähren sie als „unechte“ Identifikationsfiguren eine menschliche Distanz zur eigenen „echten“ Identität? Ist die erinnerte Lieblingsfilmszene dabei Ausgangspunkt oder ersehntes Ziel einer Suche? Ein erreichter oder wieder verlassener Ankunftsort? ganz ist nie eins. Jede erinnerte einzelne Filmszene ist ein durch unzählige situative Einflüsse geprägtes individuelles emotionales Fragment, und bleibt es auch im dramaturgischen Arrangement.

Ein Mann mittleren Alters in hellgrauem Anzug, weißem Hemd, mit Brille und strähnigem Haar agiert mit einem Baseballschläger. Mit beiden Händen umgreift er fest den Schläger und hält ihn über seine rechte Schulter. Fünf Aufnahmen zeigen diese Haltung aus verschiedenen Perspektiven. Auf einer weiteren Aufnahme kehrt der Mann dem Betrachter den Rücken zu, steht da, mit leicht vorgebeugtem Oberkörper, seine Hände sind nicht zu sehen. Auf einer anderen, ausschnitthaften Aufnahme seines Unterkörpers löst sich seine rechte Hand vom Schläger, nur die Linke hält ihn noch fest. Jede der sieben Schwarzweißaufnahmen der Serie Glencheck gibt scheinbar den Ausschnitt einer zusammenhängenden Handlung wider. Aber warum erscheinen diese Bilder als zusammengehörige Szenen? Positionierung der unterschiedlich formatigen Arbeiten, Perspektivwechsel und Ausschnittwahl der Motive evozieren einen Handlungsablauf. Ebenso lassen Ähnlichkeiten der Haltungen und das unveränderte Erscheinungsbild des Mannes auf ein begrenztes Zeitfenster schließen. Dabei variiert der Ort der Handlung. Mal spielt sich eine Szene in einem nicht näher definierten Innenraum, mal im Freien ab. Der Mann trägt keine Sportbekleidung, sondern einen Anzug. Weder gibt es Zuschauer eines Spiels, noch Opfer einer Gewalttat. ganz ist nie eins. Jedes Bild ist lediglich die Momentaufnahme einer statischen Situation, einer Haltung. Der Betrachter sieht ein angespanntes Ausholen mit dem Schläger und den entspannten Moment danach, aber kein Zuschlagen. Fast automatisch begreift er jedoch die Einzelbilder in dieser Anordnung als Teile einer zusammenhängenden Geschichte, versucht das Gesehene einzuordnen, fehlende Sequenzen zu ergänzen, einen Sinnzusammenhang herzustellen. Je ehrgeiziger diese Bemühungen, desto fragwürdiger werden sie. Aber es gibt keine Bewegung, keine Handlung, keinen Handlungsablauf, kein Spiel, keine Gewalttat. Warrass’ Schwarzweißfotografie kombiniert schnappschussartige Nahaufnahmen, entrückt die Ereignisse in eine zeitlose Gegenwärtigkeit. Sinn und Tenor der vermeintlichen Handlungsmomente bleiben verborgen. Die sieben Aufnahmen sind lose Puzzleteile, die, einem imaginären Raster folgend, einander zugeordnet provozieren ein Ganzes ergeben zu wollen. So stellt sich zuerst die Frage nach dem Sinn dieser befremdlich wirkenden Handlung, bevor die Fragwürdigkeit eines tatsächlichen Handlungsablaufs bewusst wird.

Ein lichtdurchflutetes Zimmer einer Wohnung, cremeweiße Wände, sandfarbener Teppichboden. Die weiß eingefasste, teilverglaste Tür steht halb offen, gegenüber ein Fenster. Dann ist da diese Frau, ein blaues Sommerkleid, hochgestecktes, dunkles Haar. Fast lautlos hat sie den Raum betreten, steht nahe der Wand. Leicht gebeugt, vorsichtig führt sie ihren rechten Arm zur Wand. Ihr Blick verfolgt die Geste, die scheinbar beiläufig, gedankenverloren wie von selbst und doch gewollt abläuft. Ganz behutsam, zärtlich, zaghaft deutet sie eine Berührung an. Die Außenfläche ihrer Hand, ihr Arm und ihr Körper nähern sich der sonnenangestrahlten Wandfläche. Der Blick schweift zum Fenster, die äußere, sich vergewissernde Selbstbeobachtung wird zu einer inneren Gewissheit. Sie will die Berührung ganz, neigt mit gesenktem Blick ihren Kopf. Aber auch ihre linke Hand führt die Berührung nicht aus, wirft einen Schatten. Nur das Abbild der Hand ist eins mit der Wandfläche. Die ganze Frau ist ihr innig zugeneigt. Aber warum? Was ist Ursache dieses Hingezogenseins der Frau zur Wand? Einer Person zu einer Sache? Was bedeutet diese Anziehung? Und wohin führt ihre emotionale Zuwendung? Diese Momentaufnahmen in sechs farbigen Einzelbildern tragen den Titel Sonar. Da gibt es etwas, das Dinge im Verborgenen finden kann, unter die Oberfläche schauen kann. Die eigentlich durchsichtige, wässrige Oberfläche, die nur ihren undurchsichtigen, dunklen Untergrund reflektiert. Das Motiv ist scharf gezeichnet, für den Betrachter bleibt nichts verborgen und doch vieles unklar. Ist die Wand das Objekt der Begierde, das diese emotionale Geste auslöst? Die Handlung scheint eindeutig, und stiftet doch Verwirrung. ganz ist nie eins. Die Berührung wird lediglich angedeutet, aber es wird nicht berührt. Es geht nicht um Berührung. Vielmehr geht es um Beziehung. Um das Spannungsverhältnis zwischen Berührung und Zurückhaltung, zwischen Verschmelzung und Verzicht. Ist Ganzheit wirklich Einheit?

Ein Paar, eine Frau und ein Mann, der Mann allein, im Freien, in dicht bewachsener, üppig grüner Uferlandschaft, in einem mit Algen überzogenen See, eine begrünte, befestigte Böschung hinaufsteigend. Eine Geste seiner linken Hand ragt in das Bild einer herbstlichen Seelandschaft mit ein paar Enten. Diese Szenen sind Teil der sechs in Leuchtkästen gerahmten Bilder der 23teiligen Serie While discussing life (Kunst-am-Bau-Projekt 2008 im Besucherraum der JVA Wittlich). Immer wieder agiert der Mann als Protagonist in diesen Bildern. Als Teil des Paars, als Teil der Natur, durchschreitet er hohes Gras und Büsche, steht im seichten Wasser des Sees und begreift im tatsächlichen Wortsinn dessen Beschaffenheit. Die Frau berührt weder ihre Umgebung, noch berührt sich das Paar. Jeder ist für sich, allein. Ist das tatsächlich so? ganz ist nie eins. Ein Paar. Ein Mann und eine Frau, die scheinbar zusammengehören. Zwei Menschen, die sich frei bewegen, draußen, in einem unbegrenzten Raum, zu jeder Zeit, ohne Regeln. Ist Ganzheit eben nicht vielleicht doch jenes subjektive Gefühl, das ich mit mir selbst ausmache?

Einblicke in vier unterschiedliche, aber doch sich ähnelnde Wohnzimmer. Ordnung, Einrichtung und Dekoration spiegeln gehobenen Lebensstandard und Status der Bewohner wider. Die vier Bilder der Serie Wohnzimmer zeigen Räume, in denen alles in Ordnung scheint. Aber warum beschleicht den Betrachter dieser Wohnzimmeridylle diese Verunsicherung, dieses unbestimmte, unangenehme Gefühl? Wohnzimmer sind oft der zentrale Raum in einer Wohnung, einem Haus. Intime und geschützte, private Orte, an denen Menschen zusammenkommen. Aber in den Bildern von Petra Warrass hält sich niemand in diesen Räumen auf. Vielmehr macht sich in ihnen eine Leere und Verlassenheit breit, so dass der Blick wie von selbst die Grenzen jener Räume auslotet. Das Dominante in den Bildern ist aber nicht der Raum selbst, sondern die Raumöffnung. Nicht nur das Fenster, sondern die Fensterscheibe, befreit vom zur Seite geschobenen Vorhang. Aber der Blick nach draußen ist nicht möglich. Im Gegenteil prallt der Blick nach draußen an den mächtigen, nachtdunklen, undurchsichtigen Scheiben ab und wird sogleich davon aufgesogen. Die Funktion des Fensters wird ad absurdum geführt, seine Schutzfunktion als „durchsichtige Wand“ sogar ins Gegenteil verkehrt. Der Ausblick, aber auch der sich vergewissernde Blick nach draußen sind nicht mehr möglich. Gleichzeitig aber, besonders in dieser abendlichen Beleuchtungssituation, der Blick von Draußen nach Drinnen. ganz ist nie eins. Die Wohnzimmer in den Bildern von Petra Warrass sind in Ordnung, die Fensterscheiben sind intakt, ganz. Aber die schwarzen Scheiben zeigen dem isolierten Rauminneren nur ein Spiegelbild seiner selbst. Welche Art von Ganzheit reflektieren diese Räume?

Auch wenn die vorgestellten Arbeiten auf den ersten Blick sehr unterschiedlich daherkommen, bringen sie alle das für Petra Warrass entscheidende Thema auf den Punkt: die Suche. Wie sie selbst sagt, „die letztendlich größte Suche, mit der der Mensch überhaupt beschäftigt ist. Der Suche nach sich selbst, nach dem Zustand, in dem man sich glücklich fühlt. Diese Suche begleitet uns unser Leben lang, ist mal für einen kurzen oder längeren Moment erfolgreich, dann auch wieder mal eine längere Zeit nicht.“ Dabei geht es – umgeben von einer „Aura subtilen Humors“ (Dr. Anna Zika) – um die Frage: Was ist Ganzheit? Und immer wieder die Frage nach dem Warum. Die tatsächlich und imaginär bewegten Bilder von Petra Warrass führen Situationen vor, die genau diese Fragen in sich bergen. Auf den ersten Blick sind es Situationen, die eine gewisse Routine und Alltäglichkeit ausstrahlen, doch beim näheren Hinsehen irritieren. Die Umgebung, in der eine Handlung stattfindet, die Person, die eine Handlung ausführt, ja gar die Handlung oder die Situation selbst. Als scheinbar bekannt inszenierte Begebenheiten werden dadurch zu Grenzsituationen. Die Ganzheit, das Gefühl von Normalität, in sich zu ruhen, Zufriedenheit scheint zum greifen nah. Gleichzeitig ist diese motivische und inhaltliche Ganzheit in den Bildern immer wieder einer Gefahr ausgesetzt. ganz ist nie eins. Die Arbeiten von Petra Warrass erschließen sich dabei mit einer fast klassisch zu nennenden Lesbarkeit, funktionieren wie Mosaike, wie illusionistische Gemälde, wie impressionistische Bilder. Aus der Ferne betrachtet und beim ersten Hinsehen nimmt man ein ganzes, intaktes Bild wahr. Erst aus der Nähe und beim genaueren Betrachten werden die zahlreichen Irritationen, Brüche oder Risse in der durch kompositorische und technische Mittel erzeugten scheinbar homogenen Oberflächenstruktur der Bilder bewusst. Dieser Effekt, das Wahrnehmen einer Grenzsituation, ist gleichsam Ursprung und Ziel der Arbeiten von Petra Warrass. Die künstlerische Idee entspringt diesem irritierenden Moment: „Warum verhält sich dieser oder jener Mensch so? Was gibt ihm Anlass dazu? Warum fällt er aus der Rolle. Was sind die Hintergründe, was ist die Geschichte zu diesem Handeln. Es sind die Brüche, die mich anziehen und mich nach dem Warum fragen lassen.“, so Petra Warrass. Ausgangspunkt ist das Wahrnehmen und Beobachten der Umgebung. Das emotional reflektierte, inszenierte Festhalten im Bild markiert genau das Ergebnis dieses Prozesses, der assoziativ – über die Identifikationsfigur im Bild oder im Film und die eigene Erinnerung – die Frage von Selbst- und Fremdwahrnehmung aufwirft. ganz ist nie eins. In ihren Arbeiten lässt Petra Warrass die Unzähligkeit von erlebten und gesehenen Situationen potenziert mit unendlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten und Perspektiven Ganzheit zu einer fragwürdigen, zerbrechlichen Größe werden. Die von ihr festgehaltenen fragmentarischen (Handlungs-)momente bleiben unaufgeklärt, die Frage nach der Ganzheit wird von ihr nur gestellt.

„Ich sterbe in jedem Augenblick und werde wiedergeboren, neu und ohne Erinnerungen, lebendig und vollkommen, nicht mehr innerhalb meines Körpers, aber außerhalb davon überall.“
Vitangelo Moscardo, Protagonist in Luigi Pirandellos „Einer, Keiner, Hunderttausend“, 1912-1925/26

© Denise Essig, 2009

 

 

 

Handlung und Augenblick: Die Arbeiten von Petra Warrass

von Eva Marie Ehrig / Michaela Rung-Kraus

(Katalogtext, Petra Warrass, Künstlerhaus Schloß Balmoral, 2006)

 

 

„Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen, und muss daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird.“ G.E. Lessing

Oder das Leben begreifen als Bild, als Archiv vielleicht unbemerkt koexistierender Kompositionen. Den einen prägnanten, bemerkenswerten Augenblick einer Handlung erkennen. Das Vorhergehende, das Folgende nach seinem Sinn befragen – eine Situation intellektuell und emotional erfassen – und in der Kunst die Grenzen des Begreiflichen verschleiern und auflösen zugunsten des freien Denkens. Die künstlerischen Arbeiten von Petra Warrass zeichnen sich durch kompositorische wie farbliche Klarheit und visuelle Schärfe aus. Sowohl die Photographien als auch die Videos, die in den letzten Jahren entstanden sind und menschliches Verhalten in den Blick nehmen, sind von einer hochkonzentrierten, manchmal fast überdeutlichen Bildsprache. Inhaltlich jedoch entziehen sie sich jeder Eindeutigkeit, denn anstelle vordergründiger, griffiger Pointen entfalten sich auf den ästhetisch perfekten Oberflächen unausgesprochene, ambivalente Konnotationen und Fragen, die den Betrachter verunsichern und ihn letztlich auf seine eigene, individuelle Interpretation zurückwerfen. „Les joueurs“, 2005. Vor laufender Kamera tragen zwei Jungen einen bewaffneten Zweikampf aus: Mit ernsten Mienen laden sie ihre Waffen, zielen, verfolgen einander, raufen, halten sich gegenseitig die Pistole an den Kopf, drücken ab, einer der beiden stürzt, windet sich am Boden. Ein Spiel mit dem Tod – aber ein Spiel: Im Eifer des Gefechtes bricht kindliche Freude durch, Lust an der Bewegung, Gelächter über gelungene, waghalsige Manöver. Eine harmlose Situation auf einem Pariser Spielplatz. Den Zuschauer aber beschleicht eine eigenartige Beklemmung. Denn im Medium des Schwarzweißfilmes, durch das Mittel der Zeitlupe und letztlich durch die Dramaturgie des Schnittes gewinnt die eigentlich alltägliche Szene eine ästhetische Präzision, zugleich eine Zeitlosigkeit und Abstraktion, die gemischte Gefühle hervorrufen: Ist das wirklich nur ein Spiel? Woher diese Choreographie, diese Leichtigkeit – und dann wieder die fast perfekte Nachahmung gewalttätiger Posen und Gesten? In einer anderen Videoarbeit setzt die Verfremdung durch den künstlerischen Eingriff zu einem früheren Zeitpunkt ein und deutet sich auch im Titel an: Ein beobachtetes menschliches Verhalten spielt sich „Out of area“, an einem gänzlich untypischen Schauplatz ab. Fünf junge, vollkommen normal gekleidete Männer gebärden sich inmitten des Straßenverkehrs, auf Plätzen und in Fußgängerzonen wie euphorische Fußballspieler auf dem Spielfeld: Sie umarmen sich, klammern sich zu seltsamen Menschentrauben zusammen, liegen auf dem Boden übereinander – und verharren für Momente unbewegt in diesen Positionen. Anders als bei „Les joueurs“ arbeitet Petra Warrass hier also nicht mit dokumentarischem Ansatz an einer vorgefundenen Situation sondern führt von Anfang an Regie, indem sie Schauplatz und Akteure selbst definiert und eine Handlung in einem ganz neuen Kontext bewusst inszeniert. Die Situation wird unklar: Was treiben die jungen Männer? Ihr Verhalten erscheint in der Alltäglichkeit des öffentlichen Raumes nahezu lächerlich. Doch wäre es nicht eigentlich in jedem Kontext, also auch auf dem Fußballfeld absurd – wenn man diesen Gedanken nur einmal so klar und prägnant vor Augen hätte? Die Passanten in „Out of area“ jedoch scheinen nichts zu sehen oder tun doch zumindest so, als brächte sie nichts aus der Ruhe. Sind sie verlegen, irritiert, verunsichert? Ihr Verhalten wird letztlich zum Teil einer grundsätzlichen Analyse: Bemerken wir noch etwas? Das Verhalten der Passanten wird zum eigentlichen Thema; der Betrachter des Videos aber überblickt die Szene aus sicherer Distanz und nimmt – wie die Künstlerin selbst – die Rolle eines reflektierenden Beobachters ein. Michael Riemann zu den Arbeiten von Petra Warrass Seite 01/02 Die Fotografien Ted 1, Ted 2 und Ted 3 hingegen gönnen dem Betrachter keinen sicheren intellektuellen Standpunkt mehr. Die Irritation nimmt in dem Maße zu, wie die Künstlerin die Spuren ihrer Strategie dem Blick entzieht. Keine Erklärungen mehr, kein Hinweis auf den Impuls, der zur Genese der Werke führte: weder durch den Titel, noch durch den künstlerischen Ansatz – schon gar nicht durch die gezeigten Motive. Erstmals kommen Objekte, Requisiten ins Spiel. Kleine bunte Stofftiere bedecken den Kopf eines Mannes; ein schwarzer Teddybär scheint vom Himmel zu fallen und trifft denselben Mann im Nacken. Die Situationen scheinen um so widersprüchlicher, absurder, als beide Arbeiten rein formal dem Typus eines klassischen Porträts folgen. Doch die Durchschnittlichkeit des Mannes, seine leicht untersetzte Statur, die kräftigen Hände, die ungebügelte Hose – wie erklärt sich angesichts dieser Normalität seine Situation? Sein Gesicht ist durch die Stofftiere verdeckt; in Ted 2 wendet er dem Betrachter den Rücken zu. Wer ist er? Was nimmt er wahr? Wer reagiert – und worauf? Seine Situation, sein Verhalten – zumal vor dem Hintergrund eines Waldweges, einer aussagefreien Architektur – wirken irreal, bleiben rätselhaft. Bei aller kompositorischen, motivischen Prägnanz löst sich jeder Kontext der Handlung in der Widersprüchlichkeit des Augenblicks auf. Der Betrachter empfindet die Spannung, die Kraft des Unbegreiflichen – und bleibt frei in seiner Interpretation.

© 2006 www.wort-fuer-kunst.de

 

 

 

Zu den Arbeiten von Petra Warrass

von  Michael Riemann

(Katalogtext, „Ortswechsel 2004“, Cité Internationale des Arts)

 

Für Erziehungsberechtigte, die das Kinderspiel mit Spielzeugwaffen für pädagogisch bedenklich halten, ist der Kurzfilm „Les joueurs“ wahrlich nicht geeignet. Gezeigt werden zwei Kinder, die auf einem Spielplatz in Paris einen Todestanz, eine Choreographie des sich gegenseitigen Erschießens darbieten. Lang erscheinende fünfeinhalb Minuten dauert das Spiel des sich Verfolgens und Tötens, Zeit genug, dass auch den mit weniger pädagogischen Skrupeln behafteten Zuschauer ein Unbehagen beschleichen mag, denn die beiden kindlichen Akteure spielen ihre Rollen mit Gänsehaut hervorrufender Überzeugungskraft. Schon die Anfangsszene, das lässige Laden der Waffen mit einer gelangweilten Beiläufigkeit, die an Quentin Tarantinos Film Pulp Fiction erinnert, lässt den Cineasten Anerkennung für die (schau)spielerische Leistung bei der Darstellung von Kaltblütigkeit zollen. Das Schießen aus dem gehechteten Sprung, das beidhändige Anvisieren des Gegners – perfekt. Zugleich löst das gekonnte Spiel im Verlauf des Filmes eine immer größer werdende Irritation aus und spätestens, wenn das verletzt wegkriechende Opfer mehrere finale Todesschüsse in den Rücken erhält, stellt sich die besorgte Frage nach dem Verhältnis der beiden Kinder zur Gewalt. Dies ist nicht mehr das von Karl May-Verfilmungen inspirierte Cowboy- und Indianer- Spiel der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Der aus heutiger Sicht unfreiwilligen Komik dieser Filmklassiker, wo die Schüsse noch nach Zündplättchenpistolen klangen, die Grenzen von Gut und Böse klar definiert waren und, Karl Mays Handlungsanweisung folgend, mit „ein Schuss, ein Schrei, und alles war vorbei“ zwar pathetisch, aber dennoch zügig gestorben wurde, ist eine mediale Darstellung von Gewalt gefolgt, die Exzess mit Beiläufigkeit verbindet. Das Spiel der Kinder in dem Film „Les joueurs“ macht uns diese Elemente unserer aktuellen cineastischen Gewaltdarstellungen, die wir als kunstvolle Filmsprache mit Oscars dekorieren, irritierend aus einer veränderten Perspektive bewusst. Zugleich trifft er auf eine Zeit, in der die Präsenz realer Gewalt und Bedrohung eine neue Dimension erreicht hat. Bei all der uns täglich begegnenden medial aufbereiteten Gewalt, ob realen oder fiktiven, auf Unterhaltungszwecken basierenden Ursprungs, erzeugt das Betrachten des Films auf seltsame Art das Gefühl des berühmten Tropfens, der das Fass zum Überlaufen bringt. „Nicht auch noch die Kinder!“, möchte man rufen, obwohl, wie wir ja alle wissen, auch diese beispielsweise als Kindersoldaten schon längst die vermeintliche Unschuld verloren haben. Die Aussage des Volksspruchs „Kindermund tut Wahrheit kund“ zeigt in abgewandelter Formulierung als „Kinderspiel tut Wahrheit kund“ schonungslos seine Richtigkeit in diesem Film, der trotz seiner Kürze und inhaltlichen Beschränkung eine komplexe Aussage über unsere Gesellschaft, die Gewalt und die Medien trifft. Die irritierende Wirkung von Handlungen, die den Kontext verlassen, in dem sie entstanden sind, ist auch zentrales Thema vieler Fotoarbeiten von Petra Warrass. Der Titel der Fotoreihe „Out of area“ ist somit zugleich Programm und Hinweis. Die Formulierung, die, aus dem militärischen Bereich stammend, einen Einsatz militärischer Kräfte außerhalb des geographisch zur Landesverteidigung vorgesehenen Einsatzgebietes bezeichnet, betitelt hier eine sechsteilige Fotoreihe und einen zu diesem Zyklus gehörenden zweieinhalbminütigen Film. Gezeigt werden junge Männer, die im urbanen Umfeld grotesk erscheinende Positionen einnehmen, zum Beispiel sich das Hemd hochziehen und den Oberkörper entblößen oder, sich aufeinander fallen lassend, ein Knäuel menschlicher Leiber formen. Wie schockgefroren erscheinen die Momentaufnahmen, in die man auf den ersten Blick hineingezogen wird, um dann gleichsam in einen zeitlosen Schwebezustand zu geraten, der nicht auflösbar ist, da man nicht weiß, was Ursache und Konsequenz dieser Situationen ist. Die Haltungen und Handlungen vollziehen sich dabei in einer seltsamen Selbstverständlichkeit. Die Akteure agieren nicht provokativ, rebellieren nicht gegen übliche Verhaltensnormen, sondern handeln mit beiläufiger Gedankenverlorenheit, die ein Nichtwissen um die Seltsamkeit ihres Verhaltens suggeriert. Eine bis ins kleinste Detail perfekt arrangierte Bildkomposition lässt das Unangebrachte des Handelns noch deutlicher hervortreten, das strenge Einhalten der kompositorischen Regeln kontrastiert mit dem Regelverstoß. Michael Riemann zu den Arbeiten von Petra Warrass Seite 01/02 Der Sportfreund mag die dargestellten Momente vielleicht zu entschlüsseln vermögen, in der Serie „Out of area“ werden meist Szenen des Ausdrucks von Begeisterung von Akteuren auf dem sportlichen Spielfeld nachgestellt. Das Verhalten, das in bestimmten Situationen im Sport als adäquate Ausdrucksform gewertet wird, wirkt im urbanen Raum und bar eines ersichtlichen Anlasses befremdend. Übrigens hat auch in der Sportberichterstattung, wie bei den Gewaltdarstellungen in der Filmsprache, eine Veränderung der Bildsprache und des Agierens stattgefunden. Während noch in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts sich artig nach einem Torschuss die Hand zur Gratulation gereicht wurde, brachte die Internationalisierung der Berichterstattung auch südländisch temperamentvolle Ausdrucksweisen von Freude ins Fernsehen. Man merkte schnell, dass dies den Zuschauern gefiel, und so üben sich nun auch nordische Spieler in manch seltsam intimen Posen. Eine Steigerung erfährt die Irritation, die diese aus dem üblichen Kontext gerissenen Stellungen auslösen, dadurch, dass bei den Fotos die Handlungen in meist menschenleeren Raumsituationen stattfinden. Bei den filmischen Szenen hingegen steigert das gänzliche Missachten und das Des-interesse an dem seltsamen Geschehen durch die zufälligen Passanten die Irritation des Betrachters. „Warum schaut außer mir keiner hin?“, fragt man sich verwundert. Ist dies Ausdruck einer am Mitmenschen desinteressierten Gesellschaft, oder wird das seltsame Treiben gar als normal wahr-genommen? Ist es nicht empörend, dass sich niemand empört? Was ist mit einer Gesellschaft, die weder neugierig noch anteilnehmend ist? Mit ihren auf den ersten Blick bei aller Befremdlichkeit einfach konzipiert erscheinenden Handlungen und Bildern gelingt es Petra Warrass, komplexe und vielschichtige Fragestellungen über unsere Gesellschaft, unsere sozialen Rituale, die Medien und uns selbst zu formulieren. Die Irritationen, die ihre Arbeiten dabei auslösen, regen zu einem längeren Nachdenken über Dinge an, bei denen wir uns angewöhnt haben, sie wenig zu hinterfragen.

© Michael, Riemann 2005

 

 

 

Fall-Bilder, Lessing revisited

Dr. Anna Zika über Inszenierungen von Petra Warrass

(Katalogtext, „Da sitz ich so, ganz harmlos“, 2003)

 

 

Wann die Vergleichung gildt, dass die Welt ein Schauplatz sey,so ist es richtig, dass alle diejenigen, die darauf öffentlich spielen und die wichtigsten Veränderungen verursachen, als vornehmste Comödianten zu betrachten sind. Johann Michael von Loen, 1718

In seiner Beobachtung und Beschreibung des kurfürstlich-sächsischen Hofes zu Dresden gebraucht J. M. v. Loen, ein Autor der Frühaufklärung, das Sprachbild von der Welt als Bühne. Diese Metapher hatte bereits William Shakespeare in seinem Globe Theatre sinnfällig werden lassen: dessen Bretter bedeuteten in der Tat die Welt; umgekehrt erschien dem Dichter und Dramatiker die ganze Welt als ein einziges Theater. Derlei schwingt heute nur noch leise mit, wenn wir den Begriff der Inszenierung beinahe inflationär gebrauchen. Erlebnis-Restaurants (muss man das Wild selbst erlegen?) verheißen prachtvolle Inszenierungen festlicher Mahlzeiten, Familientherapeuten inszenieren Psychodramen (Stühle ersetzen die Verwandten), Supermärkte inszenieren den „Wein der Woche“; der Ästhetik-professor und Action-Teacher Bazon Brock schickte sich schon vor über dreißg Jahren an: „Ich inszeniere Ihr Leben“, um den Klienten die Rollenhaftigkeit ihres sozialen und privaten Verhaltens im Alltag vorzuführen. Erst recht die Life-Style-Kampagnen der 90-er legten wohlhabenden Jungmenschen nahe, Outfit, Arbeits- und Wohnumgebung auf inszenatorische Wirkungen einer Bühne für das Leben auszurichten. Folglich reklamierten Kleinstbörsianer, ArtzgattInnen und Selbstfinder für sich Öffentlichkeit und Wahrnehmbarkeit ihrer „Persönlichkeiten“, ihres Wesens und Wirkens wie weiland Könige und Kurfürsten. Petra Warrass nun aktualisiert und reformuliert den Begriff der Inszenierung in mehrfacher Hinsicht: In ihren künstlerischen Arbeiten inszeniert sie vermeintlich alltägliche Situationen, deren tiefgründige Absurdität sich rasch eröffnet. Dabei entwickelt sie eine Bildsprache, die wiederum von elaborierten Inszenierungen zeitgenössischer bildender und darstellender Kunst inspiriert wurde. Vor allem greift sie in ihren Fotografien der Werkgruppe Da sitz’ ich so, ganz harmlos die eigentümliche Ästhetik von Filmstills auf, jenen narrativen „Ausschnitten“ von Kino-Filmen, die zu Werbezwecken meist nach- inszeniert wurden und sich so an der Schnittstelle von Standbild und bewegtem/bewegendem Bild befinden (bezeichnenderweise kennt der umgangsprachliche Gebrauch im Englischen sowohl die Bezeichnungen Pictures und Movies als Synonyme für Film). Sie macht sich dabei den Rezeptions- effekt zunutze, dass Betrachter zwanghaft die Bildwerke als Teile einer zusammenhängenden Erzählung zu deuten und deren Inhalt „zwischen den Bildern“ zu rekonstruieren versuchen (in jenen legendären Zwischenräumen also, die der Filmkünstler Werner Nekes mit der Einheit kine bemaß). Und auch die Wuppertaler Choreographin Pina Bausch erwies sich mit ihren programmatischen Etüden zu Beziehungsproblemen als anregend für die Warrass’schen Bildfindungen. In glamouröser Starrheit stolpern und stürzen junge Männer und Frauen durch die Aufnahmen von Petra Warrass; offentichtlich auf der Suche nach Glück oder Hautunreinheiten sind sie aus der Bahn geraten, fischen im Trüben oder werden von der Wucht des Augenblicks zu Boden gestreckt. Mit der burlesken Gespreiztheit ihres interaktiven Unvermögens stecken sie die Serienheldin Ally McBeal (für viele Inbegriff zwischenmenschlichen Scheiterns der Generation X) allemal in die Tasche: Warrass’ Akteure scheinen ihre Existenz ungleich näher am Rande des Nervenzusammenbruchs zu führen, wobei in formaler Hinsicht eine staunenswerte Auswahl „fruchtbarer Augenblicke“ entsteht; eben solche hatte G.E. Lessing an Statuen bemerkt, die den Menschen in einer unabgeschlossenen Bewegung zeigen und es so ermöglichen, „den harten Gegenstand der Materie zu überwinden, und wenn es möglich gewesen wäre, dieselbe zu begeistern“, wie es Lessings Kollege J. J. Fall-Bilder, Lessing revisited – Dr. Anna Zika über Inszenierungen von Petra Warrass Seite 01/02 Winckelmann ausdrückte. Die Begeisterung, sprich Belebung (Animation) von Bildfiguren durch die Vorstellungskraft des Betrachters wird dann auch durch Petra Warrass unmissverständlich eingefordert – ein Vorgang, der letztlich die Umkehr der Blickrichtung zurück auf sich selbst hervorruft: Es entwickelt sich ein deutliches Gespür für die Fremdheit des eigenen Körpers und der eigenen Gestimmtheit im Verhältnis zu einer nur augenscheinlich zivilisatorischen Umgebung. Wie Lessing hatte auch Goethe die Erfindung technischer Bildmedien vorweggenommen, die eine Bewegungssuggestion stimulieren, indem sie einen „vorübergehenden Moment“ wählen: „kurz vorher darf kein Teil des Ganzen sich in dieser Lage befunden haben, kurz hernach muss jeder Teil genötigt sein, dies Lage zu verlassen; dadurch wird das Werk Millionen Anschauern immer wieder neu lebendig sein. (…) Um die Intention (…) recht zu fassen, stelle man sich in gehöriger Entfernung mit geschlossnen Augen davor; man öffne sie und schließe sie sogleich wieder, so wird man (…das Werk) in Bewegung ansehen, man wird fürchten, indem man die Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe verändert zu finden“ (Über Laokoon, 1798). Für die Handelnden auf Warrass’ Bildern, diese Objekte der Tücke, ist indessen nicht nur Veränderung zu befürchten, sondern, dass sich die unheil- schwangere Atmosphäre vollständig über ihnen entladen könnte. Davor scheinen sie immerhin durch die Aura subtilen Humors gefeit, die den unnachahmlichen Reiz und Erinnerungswert der Bilder garantiert – Nehmense jrotesk, det hebt Ihnen. Das gefahrvolle Umschlagen gesellschaftlicher Konventionen in unkontrollierte Spannungs-entladungen unter emotionalem Hochdruck wird auch in der mehrteiligen Installation Und dann blickt man stumm auf dem ganzen Tisch herum angesprchen. Wie Märtyrerinnen tadellosen Benhmens wirken die in reines Weiß gehüllten Tischdamen des Projektions-Tryptichons, die, statt zu essen, in seltsames Posieren verfallen und damit archetypische Reste zivilisierter Gesten zitieren. Der vorsätzliche Sinn einer Tischgemeinschaft, meiteinander zu kommunizieren, wird allerdings ad absurdum geführt, ebenso die bürgerlichen Methoden der Körper- und Selbstbeherrschung, zu denen seit dem 18. Jahrhundert Knigge und Co. anleiteten.

© Anna Zika, 2003